Russischer Kaukasus

Unermüdlich geht der Bergtiger hin und her. Die Bären im Gehege um die Ecke scheinen ebenfalls unruhig. Wir sind frohen Mutes, wissen nicht recht was bei der Reise in den verwinkelten Kaukasus alles passieren wird. Eine abenteuerlustige Neugier lässt uns tags zuvor alle Warnsignale ausblenden und so verabreden wir uns für heute Morgen mit unserem Guide Sergej in Vladikavkaz. Unser Taxifahrer ist für den ganzen Tag gebucht und die Rezeptionistin des Hotels über unsere Abwesenheit unterrichtet.
Was genau der Fehler war und zur Verhaftung führte, lässt sich nur sehr schwer rekonstruieren. In der Stadt war während unseres Aufenthaltes eine grosse Freude zu spüren, junge Menschen in Schuluniformen bildeten spontane Tanzreihen in den Strassen Vladikavkaz. Autos mit wummernden Bässen dienten als Treffpunkte, doch die Euphorie hielt nicht lange. Uniformierte zerstäubten die Menschenmengen, es ist gefährlich wenn sich zu viele Menschen unübersichtlich an einem Ort versammeln. Es war landesweiter Schulanfang, alle Kinder mussten oder durften wieder zur Schule. Dies wird traditionsgemäss gross gefeiert und die Eltern begleiten die Kinder chic gekleidet zur Schule. 2004 wurde dies in Beslan zum Verhängnis und Separatisten nutzten die Gelegenheit ihren Interessen Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Ungewollt besuchte ich just am Jahrestag die Schulruinen. Auf der Karte sah Beslan nicht sehr gross aus und so erwartete ich eine einfache Orientierung. Trotzdem fragte ich auf der Strasse einen Gleichaltrigen nach dem Weg zur Schule. Ihm war gleich klar was ich sehen wollte. Wenn sich schon mal ein Ausländer an den Ort verirrt, will er die zertrümmerte Schule, etwas abseits des Zentrums sehen. Hilfsbereit und überraschend freundlich sagte er, er zeige mir wo es lang geht. Aber vorher müssten wir noch ein Monument anschauen, welches kaum jemand besucht. Es ist den getöteten Schülern gewidmet und zeigt ein offenes Lehrbuch. Soviel habe ich verstanden, mehr aber auch nicht, denn schon "Yes" und "No" war für meinen neuen Freund eine unverständliche Sprache. Wir versuchten mit Händen und Füssen und den wenigen russischen Wörtern die leicht zu verstehen sind, einander klar zu machen, wohin es geht und was es da zu sehen gibt.
Die ehemalige Schule war grossräumig abgeriegelt und von unzähligen Polizisten bewacht. Beim Betreten des Schulgeländes wurde man gescannt und zum Besuchsgrund befragt. Tief sitzt die Angst für einen erneuten Anschlag. Bei meiner Kameraausrüstung stutzten die Beamten und fragten ob ich nicht ein Journalist sei. Ich verneinte und wurde nach ein wenig Schabernack und französisch "Ich liebe dich" erklären, eingelassen. Immer wieder stolpert man in Russland auf französische Spuren. Zur Zeit der Zaren galt die fremde Sprache sogar als die Sprache der Obrigkeit und wurde vom der Allgemeinheit nicht verstanden, führte somit zu einer ausgeprägten Trennung der Gesellschaft.

Auf dem Gelände herrschte eine traurige Stimmung, viele Bilder von Schülern umrandet mit frischen Blumen von Verwandten erinnern den Verstorbenen. Verängstigt und bewegt genierte ich mich Bilder zu machen. Es reichte die Szenerie einwirken zu lassen. Doch mein Begleiter bestand darauf, dass ich einige Bilder machte. So tat ich es dann auch. Beslan wir vergessen dich nicht.
Wir sind nun seit rund zwei Stunden mit unserem Taxifahrer unterwegs und kommen gerade von den Wildtiergehegen Eingangs des nordossetischen Hochtals im Kaukasus. Da wartet bereits eine kleine Gruppe uniformierter Militärs auf uns und bittet um unsere Pässe. Wir können nicht anders als bestätigen, dass wir ihnen auf den Polizeiposten nachfahren werden. Dargavs unser eigentliches Ziel haben wir nie erreicht und was gerade abläuft verstehen wir nicht. Die Situation ist irgendwie komisch aber auch ernst. Ein weisser Lada mit verdunkelten Scheiben wartet auf uns, während wir etwas abseits der Strasse einen kleinen Umweg zu Fuss machen. Ich versuche mich zu erinnern, ob man uns von der Strasse her gesehen haben kann, kann es mir aber nicht vorstellen. Die Militärs müssen schon vorher gewusst haben, dass wir da sind.

Wir treffen in Vladikavkaz, in dem Polizeigebäude ein. Hier hätten wir auch die Genehmigungen für eine Besichtigung der Bergtäler einfordern müssen, erklären sie uns. Wir erzählen unserem Dolmetscher, der ausgesprochen gut Deutsch spricht, dass unser Guide Sergej versprochen hat, solche Touren mehrmals geführt zu haben und nie hätte er für seine Gäste eine Genehmigung gebraucht. Ihn lassen sie kurz darauf gehen, ihn trifft keine Schuld. Wir lachen zusammen über der komischen Situation, fragen ob es nicht auch anders zu Regeln sei. Die Polizisten und der Kreisdirektor verneinen entschieden und so versuchen wir nicht erneut, uns irgendwie aus der misslichen Lage zu befreien. Von Anfang an wird uns erklärt, wir haben das Gesetz gebrochen und werden daher des Landes verwiesen. Unser Strafmass wird aber noch vor Gericht verhandelt. "Vor Gericht" schauen wir uns verdutzt an?! Nach einem Nachmittag der endlosen Diskussionen und Befragung über unseren Lebenslauf, scheint uns die Richterin wohl gesinnt. Sie macht an einem Freitag Abend sogar Überstunden, lässt uns die ganze Geschichte noch einmal erklären und kommt zum Schluss: Landesverweis sowie 1500 Rubel Strafe.
Mit der kleinen finanziellen Strafe aber grossen Auswirkungen auf unsere Pässe verliessen wir am folgenden Tag die Stadt Vladikavkaz und reisten weiter nach Mineralnye Vody sowie mit dem Flugzeug nach St. Petersburg. Überall wird darauf hingewiesen, dass wir uns nicht im Land aufhalten dürfen und sofort ausreisen sollen. Trotzdem brachten wir die angefangene Reise im Norden zu Ende und verliessen Russland mit einem gemischten Gefühl aber um viele Erfahrungen reicher.

Nun wollte ich vor kurzem ein neues Visum für Russland einholen, bald stehen die olympischen Spiele in Sochi auf dem Programm, von wo ich wieder berichten möchte. Leider ist die Situation noch nicht geklärt und scheinbar muss ein Gericht in Russland erneut über die unbefugte Reise 2010 im Kaukasus entscheiden und den Fall eventuell als Bagatelle deklarieren. Nur so könnte eine Einreise nach Russland wieder gewährt werden. Bis dahin bleibt mein Name auf der schwarzen Liste der Personen mit Einreiseverbot.

Скоро сказка сказывается, да не скоро дело делается.
"Das Märchen ist bald erzählt, aber das Werk nicht so schnell getan."



Ruedi Flück 2024 — Bern, Switzerland