Wer ist Schuld an einer Lawine?



Zu den größten Gefahren beim Skifahren im Gelände gehören bekanntermaßen Lawinen. Wieso verlassen wir überhaupt die gesicherte Piste und begeben uns in Zonen, die niemand allmorgendlich auf potenzielle Gefahren überprüft und entschärft? Ich schweife schon wieder ab, denn wir woll- ten ja die Frage erörtern, wer nun bei einem Lawinenabgang schließlich die Schuld zu tragen hätte. Wäre ich selber dafür zur Verantwortung zu ziehen, wenn ich diesen ausgelöst hätte, obwohl ich mich vorbildlich vorbereitet, die neueste Methode der Lawinenprävention angewandt und alle Eventualitäten berücksichtigt hatte?

Wir kennen die langen Diskussionen, wenn ein derartiges Unglück geschehen ist. In sozialen Netzwerken und den Medien wird darüber spekuliert, wer sich richtig und wer sich womöglich falsch verhalten hat und mit überhöhter Risikobereitschaft einen Lawinenabgang teilweise zu verantworten hätte. Dabei wird oftmals das Urteil von Experten herangezogen, auch wenn diese nur bedingt zur Klärung des Unglücks beitragen können. Eine wirklich objektive Aussage kann nur von denen getätigt werden, die den Lawinenabgang miterleben mussten oder zumindest live mitverfolgt haben.

Die Erkenntnisse darüber, wie ein Abrutschen von großen Schneemassen überhaupt zustande kommen kann, verdanken wir vielen Forschungen von Meteorologen oder Forschern, die sich intensiv mit den Besonderheiten von Schnee auseinandergesetzt haben. Gibt es für dieses Arbeitsfeld eigentlich eine akademische Berufsbezeichnung? Lawinenforscher – hört sich für meinen Geschmack etwas seltsam an, muss aber wohl der zutreffende Titel sein. Und wer bezahlt eigentlich diese Lawinenforscher? Oh sorry, schon wieder abgeschweift. Sicher ist nur, dass wir jedenfalls dankbar sind für deren Einsatz! Aus ihren Versuchen wissen wir, dass viele Faktoren wie Schneebeschaffenheit, Temperatur, Wind, Geschichte des Schneefalls, Luftfeuchtigkeit und viele weitere Kenngrößen einen signifikanten Einfluss auf die Stabilität von Schneedecken haben. Worauf ich jedoch hinaus möchte, ist, dass niemand 100-prozentig eine Lawine vorhersagen oder ausschließen kann.

Ein Schneerutsch hängt nämlich von zu vielen Einflussgrößen ab, als dass es möglich wäre, ein Modell zu erstellen, das eine verlässliche Vorhersage erlaubt. Mithilfe von Statistiken und einer gewaltigen Datenbank lassen sich zwar vage Prognosen treffen – wir freuen uns, dass es so was wie Lawinenbulletins überhaupt gibt –, doch garantieren können diese dennoch nichts. Wir können uns nicht einmal dann komplett absichern, wenn wir uns mit einem eigens gegrabenen Schneeprofil Aufschluss über die aktuelle Situation versprechen wollen. Warum? Weil wir nicht wissen können, ob 20 Meter entfernt die Schneedecke immer noch den gleichen Aufbau hat. Das verantwortliche Mikroklima lässt sich nur ungerne räumlich beschränken und kann schließlich so „mikro“ sein, wie es möchte.

Es war letzten Sommer, als ich im inzwischen geräumten Lager von Idomeni mit einer Handvoll Flüchtlingen begann, über Risiko im Allgemeinen zu philosophieren. Einer der Heimatlosen hieß Bagdad, kam ursprünglich aus Algerien und lebte mehrere Jahre in Frankreich, bis er wieder zurück nach Afrika abgeschoben wurde. Als Mitte 2015 die Migrationswelle erneut anschwoll, packte er seine verbliebenen Habseligkeiten und versuchte, wieder zurück nach Frankreich zu gelangen. Wir tranken zusammen ein Bier und aßen gesalzene Erdnüsse (wegen der Elektrolyte – danke, Karl/Sven Regener). Er erzählte mir von seinem Leben und ich ihm von meinem. In meinem Peugot 106, mit dem ich unterwegs war, fand ich ein Skimagazin und zeigte ihm ein paar Bilder und Storys – was wir eben so im Winter treiben. Tiefschneefahren und Kicker bauen, Felsen springen – ihr wisst schon. Bagdad schaute vom Magazin auf und sagte zu mir: „Weißt du, jeder Mensch nimmt ein Risiko auf sich, nur um sich lebendig zu fühlen.“

Zurück zu unserer Lawinen-Geschichte. Was könnte das für uns also heißen? Sind wir tatsächlich derart abgesichert in unser Gesellschaft oder in unserem Leben, dass wir Risiken nur deshalb eingehen, weil uns „langweilig“ ist und wir uns nicht mehr lebendig genug fühlen? Ist Risiko daher individuell? Kann ich mit ihm meinen Drang nach Lebendigkeit überhaupt lindern? Schließlich habe ich die gefährliche Situation überstanden, was mir dann ein ursprünglich ungewolltes Gefühl von Sicherheit bescheren könnte. Ich müsste also eine Spur radikaler werden – quasi ein Teufelskreis.

Was definitiv feststeht, ist die Tatsache, dass wir uns keine Sicherheit erkaufen können. Schließlich entscheidet jeder am Ende des Tages selber, was er auf den Skiern oder generell in seinem Leben anstellt. Man kann also lediglich die Möglichkeiten erhöhen, sich abzusichern. Diese muss man aber auch zu nutzen wis- sen. Versteht mich nicht falsch, viele können das, viele können es aber auch nicht. Das ist vergleichbar mit Biertrinken abends in der Bar vor einem Skitag: Wenige belassen es bei einem Kaltgetränk, die meisten genehmigen sich eine Handvoll Hopfensmoothies und der Rest schießt deutlich über ein verträgliches Maß hinaus. Wenn diese dann morgens verkatert etwas länger ans Bett gefesselt sind, könnte man doch auch von einer präventiven Maßname gegen Lawinen sprechen, oder? Daher ein Hoch aufs Bier! Ein Bier oder gleich viele Bier? Das gesunde Maß liegt bekanntlich in der Mitte, denn alles soll wie immer in Balance gehalten werden.

Die Frage der Schuld können wir hier abschließend also leider nicht klären. Weder bei den Lawinen noch bei der Frage nach den Verantwortlichen für Bagdads Misere. Leider habe ich seit unserem Gespräch in Idomeni nichts mehr von ihm gehört. Ob er es geschafft hat nach Frankreich? Ob es das Risiko wert war? Passt auf euch auf – abends wie frühmorgens.

Erschienen im Prime Skiing Nr. 9, Deutschland, Dezember 2016


Ruedi Flück 2024 — Bern, Switzerland